Thomas:
Schau mal zu den Türmen der Kirche hinauf. Imposant, nicht wahr? Die Bürger Lübecks ließen die Kirche im 13. und 14. Jahrhundert bauen, als Symbol für die Macht und den Wohlstand der Hansestadt. Und zugleich wollten sie es dem Bischof zeigen. Denn St. Marien ist noch größer als die Bischofskirche, der Lübecker Dom. Du stehst vor einem steinernen Zeichen für das Selbstbewusstsein der Lübecker Bürgerschaft!
Tony:
Auch für unsere Familie ist St. Marien ein wichtiger Ort gewesen! Jeden Sonntag kamen wir hier zusammen und lauschten den Predigten von Pastor Kölling oder, später, von Pastor Pringsheim.
Meine Familie wollte mir damals eine vielversprechende Partie mit Bendix Grünlich vermitteln, einem Geschäftspartner meines Vaters. Aber ich fand diesen Mann abscheulich – Morten aus Travemünde dagegen…! Meine Eltern versuchten alles, um mich umzustimmen. Schließlich wurde auch Pastor Kölling eingeweiht. Der hielt mir eine ganz besondere Predigt...
„Eines Sonntags, als sie (also ich, Tony) mit den Eltern und Geschwistern in der Marienkirche saß, redete Pastor Kölling in starken Worten über den Text, der da besagt, daß das Weib Vater und Mutter verlassen und dem Manne nachfolgen soll, – wobei er plötzlich ausfallend wurde. Tony starrte entsetzt zu ihm empor, ob er sie vielleicht sogar ansähe... Nein, Gott sei Dank, er hielt seinen dicken Kopf nach einer anderen Seite gewandt und predigte nur im Allgemeinen über die andächtige Menge hin; und dennoch war es nur allzu klar, daß dies ein neuer Angriff auf sie war und jedes Wort ihr galt. Ein jugendliches, ein noch kindliches Weib, verkündete er, das noch keinen eigenen Willen und keine eigene Einsicht besitze und dennoch den liebevollen Ratschlüssen der Eltern sich widersetze, das sei strafbar, das wolle der Herr ausspeien aus seinem Munde... und bei dieser Wendung, welche zu denen gehörte, für die Pastor Kölling schwärmte und die er mit Begeisterung hervorbrachte, traf Tony dennoch ein durchdringender Blick aus seinen Augen, der von einer furchtbaren Armbewegung begleitet war... Tony sah, wie ihr Vater neben ihr eine Hand erhob, als wollte er sagen: ‚So! nicht zu heftig...‘ Aber es war kein Zweifel, daß Pastor Kölling von ihm oder der Mutter ins Einverständnis gezogen war. Rot und gebückt saß sie an ihrem Platze, mit dem Gefühle, daß die Augen aller Welt auf ihr ruhten, – und am nächsten Sonntage weigerte sie sich aufs bestimmteste die Kirche zu besuchen.“
Tja, wir sind alle Glieder einer Kette, hat Papa mal gesagt. Für meine Familie musste ich doch eine gute Partie machen! Deshalb habe ich der Verlobung schließlich doch zugestimmt. Ach, hätte ich doch auf mein Herz gehört…
Christian:
Ich bin nicht gern in die Kirche gegangen. Das lange Stillsitzen…. Doktor Drögemüller in Hamburg hat mir gesagt, dass an dieser Seite alle Nerven zu kurz sind… Stelle dir vor, an der ganzen linken Seite sind alle Nerven zu kurz bei mir! Es ist so sonderbar…
Es ist kein Schmerz, weißt du, es ist eine Qual… Da kann man doch nicht erwarten, dass ich brav in der Kirche sitzen bleibe, oder? Ich bin lieber auf Streifzüge gegangen. Deshalb kenne ich Lübeck wie meine Westentasche. Aber so eine Figur habe ich hier noch nie gesehen. Findest du sie vielleicht?
St. Marien
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